Der Tastsinn – Ursprung, Entwicklungsgeschichte und Zweck

Ein Neurobiologe erklärt, wie sich unser Körper und vor allem unsere Hände, mit der Zeit immer mehr an unsere Umgebung angepasst haben. 

science of touch illustration

Bereits für unsere prähistorischen Vorfahren war der Tastsinn von zentraler Bedeutung für ihr Überleben und ihre Fortpflanzung. Der Autor und Neurobiologe Dr. Liam Drew erforscht, wie sich unser Körper weiter entwickelt hat, um uns mehr mitzuteilen, als wir bewusst wahrnehmen.

Der Tastsinn ist unser intimster Sinn. Sehen, Riechen und Hören helfen, die Welt aus der Ferne zu verstehen, aber die Tastsinn (wie auch der Geschmacksinn) analysiert Objekte, mit denen unser Körper direkt in Kontakt kommt.

Das meiste, was wir berühren, hat einen unmittelbaren Einfluss auf unser Überleben oder unsere Fortpflanzung. Sei es ein Raubtier, eine Beute oder ein Parasit; ein Elternteil, ein Liebhaber oder ein Kind; Schutz oder Gefahr; Werkzeug oder Nahrung; der Boden, auf dem wir gehen oder der Ast, von dem wir uns schwingen wollen. Kein Wunder ist der Tastsinn auch der erste Sinn, der sich im menschlichen Körper entwickelt: So reagieren einige Föten im Mutterleib bereits nach acht Wochen auf Berührungen.

Wir haben Nerven!

Unser Körper ist so aufgebaut, dass der Tastsinn bei allem, was wir tun, eine wichtige Rolle spielt. Einige Bereiche unseres Gehirns und des Rückenmarks widmen sich der Verarbeitung von Informationen, die durch den Tastsinn gewonnen werden. Nervenbahnen, die durch das Gewebe bis unter die Hautoberfläche verlaufen, wandeln den Druck und die Energie von außen in das biologische Signal „Berührung“ um.

 

"Die Evolution hat ein Tast-System bestehend aus verschiedenen Sensoren und Rezeptoren geschaffen. Das System erkennt die Eigenschaften – Gewicht, Temperatur und Beschaffenheit – dessen, was unser(en) Körper berührt und wir können daraus ableiten, was für uns wichtig ist."

Schmerz und Freude erleben

Seltsamerweise erleben wir Schmerz durch das, was den Reiz verursacht und durch den Kontext, in dem er verursacht wird. In einem gesunden Körper werden Schmerzen erst durch eine ziemlich hohe Belastung verursacht, und selbst dann spüren wir sie oft nicht sofort, weil wir abgelenkt sind. Falls Sie zum Beispiel jemals eine Kontakt-Sportart betrieben haben, haben Sie die schmerzhafte Auswirkung einer „Berührung" vielleicht erst einige Stunden später wahrgenommen, weil Sie davor zu sehr auf den Wettkampf konzentriert waren.

Umgekehrt kann ein blauer Fleck an einem Körper, der sich von einer schweren Verletzung erholt, schon wenn er gestreift wird, einen heftigen Schub an Schmerzen auslösen.

 

Snow Monkeys Soak in Hotsprings

Das Erleben von Freude durch Berührung hat seine eigenen mentalen Pfade. Das Vergnügen, das ein Tier oder ein Mensch durch eine sanftes Streicheln erfährt, kann automatisch durch stimulierte Nerven ausgelöst werden, oder es kann sich aus dem psychosozialen Kontext der Interaktion ergeben.

 

Wie ich fühle

Beim Menschen werden Berührungen von zwei Bahnen der Großhirnrinde, dem somatosensorischen Kortex, verarbeitet. Sie verlaufen auf beiden Seiten des Gehirns ungefähr vom Scheitel bis knapp über das jeweilige Ohr. Neurobiologen haben festgestellt, dass davon den unterschiedlichen Körperteilen keineswegs gleich viel zugeordnet ist.

Wenn Sie eine menschliche Figur darstellen würden, deren Körperteile so skaliert sind, dass sie die Menge des Kortex widerspiegeln, die jeder Körperregion gewidmet ist, hätten Sie einen kleinen Rumpf, Gliedmaßen und Füße, einen mittelgroßen Kopf und massive Lippen, Zunge und Hände.

Der Mund und wie wir ihn gebrauchen

Für die meisten unserer biologischen Vorfahren war der Mund eine wesentliche Schnittstelle zwischen sich und der Welt. Oft hing ihr Überleben davon ab, ob etwas essbar war – oder nicht. Auch heute noch sind wir fähig, die Beschaffenheit und die physikalischen Eigenschaften unserer Nahrung bis ins kleinste Detail zu unterscheiden - ein Sommelier würde das als "Mundgefühl" bezeichnen.

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Die Entwicklung unserer Hände

Unsere riesigen Hände machen Sinn. Aber sie sind eher eine evolutionäre Neuerung. Um sie zu verstehen, müssen wir einen Bogen über den Stammbaum der Primaten machen.

Die ersten Primaten - die, wie Fossilien belegen, vor mindestens 55 Millionen Jahren lebten - kletterten auf vier, für Säugetiere normalen, Beinen die Bäume hinauf. Im Laufe der Evolution entwickelten manche dieser Tiere Füße, welche die Äste besser greifen konnten: Ihre großen Zehen drehten sich von den anderen weg, Krallen wurden durch Nägel ersetzt und die Finger entwickelten, gerillte Tastflächen (wie bei Fingerabdrücken), um die Wahrnehmung zu verbessern.

Als die Fortbewegung der Primaten aufrechter und immer mehr auf die Hinterbeine verlagert wurde, begannen sich die Vorder- und Hinterfüße zunehmend voneinander zu unterscheiden. Heute besitzt der Mensch so ausgeklügelte Werkzeuge, dass Sie durch diesen Artikel scrollen können.

Was uns der Tastsinn verrät

Unser oft unterschätzter, wertvoller Tastsinn erfüllt viele Funktionen – er unterscheidet, erkundet, fühlt, ist sexuell und sozial. Und dort, wo er am stärksten ist, in unseren Händen, können wir ihn am deutlichsten als einen Sinn erkennen, der aus einer tierischen Lebensform entstanden ist.

Mit der Dichte und Vielfalt unserer Sinnesrezeptoren und der sie steuernden Gehirnleistung, hilft uns der Tastsinn entscheidend dabei, uns in der Welt zurechtzufinden.

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